Wie zeigt der Körper das die Seele leidet?

Es tut weh, aber der Arzt findet nichts? Millionen kennen das. Was Patienten mit psychosomatischen Beschwerden hilft.

Dass das Leben zerbrechlich ist, lernen wir alle irgendwann. Dass Eltern sterben oder Kinder, dass eine Krankheit uns plötzlich aus dem Alltag reißen kann. Für Emma Stone kam dieses Wissen früh, mit aller Macht. Es trat als Panik in ihr Leben, als sie sieben Jahre alt war. „Ich war überzeugt davon, dass das Haus abbrennen würde. Ich konnte es fühlen, keine Halluzination, nur ein einschnürendes Gefühl in meiner Brust und Atemnot – so, als ob die Welt untergehen würde.“

Was sie schildert, ist eine Angststörung, ein Krankheitsbild aus dem Bereich der Psychosomatik. Dazu zählen Depressionen, Burn-out und Essstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, etwa nach Missbrauch, sowie Verhaltenssüchte wie Kauf-, Online- oder Pornografiesucht. Prof. Stephan Herpertz, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des LWL-Universitätsklinikums der Ruhr-Universität Bochum: „Seelische Belastungen können körperliche Beschwerden hervorrufen, umgekehrt gehen körperliche Krankheiten häufig mit seelischen Belastungen einher. Beides sind Domänen der Psychosomatischen Medizin. Durch den Einfluss der Seele (Psyche) auf den Körper (Soma) kann der Patient Symptome entwickeln, ohne dass der Arzt eine organische Ursache findet.“

Psychosomatische Symptome

Typische Gebrechen bei psychosomatischen Erkrankungen

Die Beschwerden sind vielfältig: Magen-Darm-Probleme wie Reizdarm, Verstopfung, Durchfall. Kopf- oder Rückenschmerzen, Ohrgeräusche, Schwindel, Juckreiz, Herzrasen, chronische Erschöpfung – alles sogenannte funktionelle Störungen oder somatoforme Beschwerden. Zudem, so Herpertz: „Auch die Psyche kann Einfluss auf Ausbruch, Schwere und Verlauf organischer Erkrankungen haben. Wer etwa an einer Depression erkrankt, läuft stärker Gefahr, auch Herzprobleme zu entwickeln.“ Und auch andersherum gilt: Wer eine Herz-OP durchgestanden hat, entwickelt danach öfter Depressionen als Herzgesunde. Ein solcher Eingriff erschüttert bei vielen das Urvertrauen. Und so folgt einem Herzinfarkt oft der regelrechte „Ich-Infarkt“.

Dem Herzinfarkt folgt oft der Ich-Infarkt

Auch organische Erkrankungen wie Krebs, Parkinson, multiple Sklerose oder Diabetes können Einfluss auf die Psyche nehmen. Zum einen, weil oft entzündliche Prozesse involviert sind: Psychiater entdeckten, dass die Autoimmunreaktion bei multipler Sklerose diffuse Entzündungen im Gehirn nach sich zieht, besonders in jenen Bereichen, die Emotionen regulieren. Die Folge: Das Depressionsrisiko steigt. Zudem, so Herpertz: „Es gibt viele somatische Erkrankungen mit einer erheblichen psychischen Komorbidität. Wir sehen bei uns Menschen mit Typ-1-Diabetes, die durch ihre chronische Krankheit massiv überfordert sind. Um die Blutzuckerwerte in einem guten Bereich zu halten, muss der Patient enormen täglichen Einsatz bringen, der sehr belasten kann. Dann haben Sie einen 50-Jährigen vor sich, der sagt: ,Ich kann nicht mehr!‘“

Das heißt: Die Psychosomatik ist ein weites Feld, eine klare Trennung in rein psychische oder rein somatische Erkrankungen ist häufig nicht möglich. So wird die Anzahl der Patienten, bei denen die Schulmedizin keine organische Ursache für Erkrankungen feststellen kann, auf 20 bis 40 Prozent geschätzt. Vor allem Frauen leiden. Psychosomatische und psychische Störungen sind zu echten Volkskrankheiten geworden und inzwischen der häufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit und vorzeitige Verrentung. Jeder Dritte klagt über Rückenschmerzen, jeder Vierte über Gelenkprobleme, jeder Fünfte über Kopf- oder Gliederschmerzen, jeder Zehnte über Bauchschmerzen oder Sexualstörungen. Bei 25 bis 30 Prozent aller Patienten, die zum Hausarzt gehen, findet sich eine behandlungsbedürftige psychosomatische Störung, in Spezialambulanzen liegt der Anteil noch höher.

Vor diesem Hintergrund wird die Disziplin der Psychosomatik, die Anfang der 80er-Jahre noch belächelt wurde, immer wichtiger. „Psychosomatik in unruhigen Zeiten“, so hieß der diesjährige Kongress der Fachrichtung in Berlin. Er warf die Frage auf, ob sich Flüchtlingskrise, Klimawandel und künstliche Intelligenz am Arbeitsplatz auf unsere Verfassung auswirken. Prof. Herpertz, Präsident des Kongresses: „Wo Einstellungen der Gesellschaft ins Wanken geraten, entstehen Ängste. Mit Ängsten geht Stress einher, Stress führt zu psychischer Belastung – und eventuell zu psychischen Störungen.“

Nehmen Beschwerden zu oder sprechen wir eher darüber?

Aber: Nehmen diese tatsächlich zu oder ist die Inanspruchnahme der Hilfe größer? Das diskutiere man gerade. „Früher kamen die Menschen wegen der Tabuisierung psychischer Probleme vielleicht nicht auf die Idee, sich professionelle Hilfe zu suchen, oder sie schämten sich zu sehr. Eine gesellschaftliche Diskussion zur Enttabuisierung psychischer Erkrankungen ist auch heute noch wichtig!“

Furcht erzeugt weitere Furcht: Wie die Angst sich bei einem Paniksymdrom oder einer Angststörung hochschaukelt (Schaubild nach Schneider und Margraf). Ähnlich verstärken sich auch bei psychosomatischen Patienten Beschwerden und Befürchtungen. 

Zudem beobachten Experten, dass Leid heute individualisierter wahrgenommen werde. Nach dem Krieg etwa lebten alle in Ruinen. Celia Pirker, Leitende Psychologin der Psychosomatischen Klinik Kloster Dießen: „Solch eine kollektive Erfahrung – wie auch bei Naturkatastrophen wie dem Tsunami – verarbeite ich anders, als wenn mir persönlich Leid zugefügt wird.“ Etwa der Messerangriff, den Tennisass Monica Seles erlebte. 1993 attackierte sie ein Fan von Konkurrentin Steffi Graf, in der Folge litt Seles unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, depressiven Verstimmungen und Gewichtsschwankungen. Für sie gibt es ein Leben vor diesem Tag – und eins danach. Sie schreibt in ihrer Autobiografie „Immer wieder aufstehen“: „In einer Sekunde wurde meine Persönlichkeit nachhaltig verändert.“

Eine psychosomatische Erkrankung zu erkennen, ist nicht leicht: Die Diagnose wird anhand der Krankheitsgeschichte (Anamnese) und nach dem Ausschluss körperlicher Ursachen gestellt. Haben solche Untersuchungen kein Ergebnis, hören Patienten oft: „Da ist nichts.“ Dabei sagte schon Platon: „Der größte Fehler bei der Behandlung von Krankheiten ist, dass es Ärzte für den Körper und Ärzte für die Seele gibt, wo beides doch nicht getrennt werden kann.“ Doch mit den Errungenschaften der modernen Medizin passierte genau das. Und so bringen viele Kranke eine Ärzte-Odyssee hinter sich, ehe sie zu einem Psychosomatiker überwiesen werden, alternativ zu Psychiater, Psychologe oder Psychodiabetologe oder Psychokardiologe, wie sie viele Kliniken haben. Pirker sieht diverse Gründe: „Der Arzt-Patienten-Kontakt wird immer kürzer, der Patient fühlt sich nicht mehr gesehen. Da ist keine Zeit, nach Stress zu fragen, nach Problemen in Job und Familie, etwas, was früher der väterliche Arzt geleistet hat, der die Lebenswelt des Patienten gut kannte – und ihn oft beruhigen konnte. Stattdessen wird der Patient schnell weiterverwiesen, was ihn verunsichert.“

Wie sehr Psyche und Körper ineinandergreifen, belegen immer mehr Studien. Vor allem das Mikrobiom steht in direkter Beziehung zum Kopf. Dr. med. Sebastian Jongen von der Klinik für Psychosomatische Medizin des LWL-Universitätsklinikums der Ruhr-Uni Bochum, der mit essgestörten Patienten arbeitet, berichtet von Hinweisen, denen zufolge der Darm große Auswirkungen auf die Psyche habe. Die Bakterien, Viren und Pilze im Bauch schätze man heute in der Wissenschaft immer mehr als „alte Freunde“ – sie sind unabdingbar für einen gesunden Organismus. Das Mikrobiom sei „fast ein eigenes Organ: Es ist mit einem bis drei Kilo ähnlich schwer wie unser Gehirn und steht mit diesem und den Nervenzellen unseres Darms in ständigem Austausch.“ Nicht umsonst wird diese Symbiose als Bauchhirn bezeichnet. Jongen: „Die neue Forschung zeigte, dass sich durch die Mangelernährung bei Patientinnen mit Anorexia nervosa die Darmflora verändert, sie ist viel weniger vielfältig.“ Beeinflusst dies die Psyche zum Schlechteren? Studien an Mäusen zeigten bereits, dass gewisse Bakterien einen depressionsmindernden Effekt haben können. Nun wurde in den Niederlanden einer schwerkranken Patientin der aufbereitete Stuhl eines Gesunden transplantiert – die Frau nahm an Gewicht zu. „Ein individueller Heilversuch, der zeigen könnte, dass wir mit dem Mikrobiom womöglich ein neues Wirk-Agens haben.“ Allerdings werde es noch Jahre dauern, bis klar sei, ob mit einem „Cocktail aus Bakterien“ Krankheiten wirklich geheilt oder gelindert werden könnten.

Auch die Infos, mit denen der Patient den Arzt konfrontiert, weil er Dr. Google befragt hat, sind oft kontraproduktiv. Durchschnittlich, so eine Studie, vergehen sieben Jahre, bis etwa bei Schmerzpatienten psychische Gründe als Ursache erkannt werden. Damit wächst die Gefahr der Chronifizierung. Dabei, so Pirker: „Je schneller man handelt, umso besser kann man behandeln.“ Das Problem ist aber auch: Viele verwahren sich gegen die „Psycho-Ecke“, sie fühlen sich körperlich und nicht seelisch krank. Herpertz: „Es ist ein Unterschied, ob der Arzt sagt: ,Ich überweise Sie zum Radiologen, ich möchte, dass die Lunge geröntgt wird.‘ Oder ob er einen Zusammenhang zwischen Körperbeschwerden und psychischem Stress anspricht.“

Lebensstil beeinflusst auch die Seele

Auch Expertin Pirker beklagt: „Leider ergreifen Patienten den Strohhalm oft nicht, den sie haben. Es gibt Krankheiten, bei denen können Sie nicht viel tun. Dass Sie aber durch eine Lebensstiländerung bei den meisten Beschwerden viel bewirken können, wird oft nicht gesehen. Dieses psychosomatische Krankheitsverständnis muss man sich erst erarbeiten.“ Denn es ist so: Beruflicher Stress, private oder finanzielle Probleme, innere Konflikte aus der Kindheit oder stete Überforderung verursachen eine seelische Anspannung, die vielfältig auf den Körper wirkt. Prof. Herpertz: „Alles, was ein Mensch erlebt, beeinflusst seinen Organismus und verändert ihn biologisch, psychisch und sozial.“ Die Frage sei nur, so Pirker: „Auf was für einen Boden trifft so ein Life-Event? Warum reagiert der eine bei einem Verlust mit einer behandlungswürdigen Depression, der andere ,nur‘ mit längerer Trauer? Wie ich damit umgehe, hängt von der Vulnerabilität ab, die ich mitbringe.“ Dies sei wichtig für die Therapie: „Wir schauen: Was hat den Patienten anfällig gemacht? Und: Was hält die Erkrankung aufrecht? Das sind entscheidende Punkte.“

Bei vielen psychosomatischen Krankheiten kann auch der Hausarzt helfen

Viele psychosomatische Beschwerden benötigen nicht unbedingt eine langfristige Behandlung. Sie können von Haus- oder Facharzt betreut werden, etwa dem Gastroenterologen bei Magen-Darm-Beschwerden. Oft reicht es, den Patienten bezüglich der Beschwerden zu beruhigen. Hinter unklaren Rückenschmerzen stecken eher Stress und Bewegungsmangel als ein Bandscheibenvorfall. Schwindel kann durch bevorstehende Entscheidungen entstehen und nicht etwa durch einen Hirntumor. Magen-Darm-Störungen basieren oft auf „nicht verdauten“ Konflikten. Der Austausch mit Menschen in Selbsthilfegruppen, die mit ähnlichen Beschwerden kämpfen, kann helfen, Ängste zu nehmen. Auch Sport, Hobbys und gute Beziehungen aktivieren Kräfte, Entspannungsverfahren sind ebenfalls oft hilfreich. In Kliniken, ob ambulant oder stationär, setzt man auf eine Bündelung der Aspekte.

Bei diesem ganzheitlichen Ansatz geht es darum, den Patienten als Mensch mit einer bestimmten Geschichte und seinen Umständen zu verstehen. Zentral ist die Psychotherapie, einzeln oder in der Gruppe; bei Ängsten oder Süchten kommt eine Verhaltenstherapie zum Tragen, bei Depressionen zudem Antidepressiva, die schneller wirken als die Psychotherapie. Diese, so Herpertz, senke die Rückfallquote, weil sie Mechanismen bereitstellt, seelischen Stress früh wahrzunehmen und durch alternative Denkund Verhaltensweisen darauf zu reagieren. Oft haben Betroffene in der Kindheit gelernt, ihren Selbstwert über Leistung zu beziehen. Nicht selten steht der Vorgesetzte dann für den strengen Vater. Auch zu hohe Erwartungen an sich selbst nehmen in Zeiten digitaler Selbstdarstellung zu.

Seit Jahren sind psychische und psychosomatische Erkrankungen ansteigend. 2017 waren diese Erkrankungen so häufig, dass fast jeder fünfte Krankheitstag auf diese Erkrankungen zurückzuführen war - Tendenz: Leider weiter steigend.

„In der Therapie erarbeitet sich der Patient diese Einblicke und realisiert, dass er nicht auf der Welt ist, um seinen Vorgesetzten glücklich zu machen oder sich von der überall präsenten Selbstoptimierung unter Druck setzen zu lassen“, so Herpertz. Psychotherapie ermöglicht es, erlernte Verhaltensmuster durch gesündere zu „überschreiben“. Aber auch kunst- oder musiktherapeutische Sitzungen sind wichtig. Pirker: „Im Gespräch erarbeiten wir intellektuell etwas, aber mit Körpertherapie, Achtsamkeit oder tiergestützter Therapie, die wir anbieten, erfährt man am eigenen Leib, dass man das Leiden aktiv beeinflussen kann.“ Es geht darum, sich zu spüren und mit sich und anderen in Kontakt zu treten. Bei der Tiertherapie am idyllischen Ammersee wird nicht gekuschelt, sondern versucht, eine Herde Schafe zu führen. Und die macht nur mit, wenn eine bestimmte Haltung, aber auch Gespür mit im Spiel sind. Die eigene Selbstwirksamkeit so zu erfahren, ist etwas, was vielen im Alltag abhandengekommen ist – ob dem gehetzten Manager oder dem onlinesüchtigen Teenager, der Tausende von Lebensstunden in Computerspiele gesteckt hat und über keine Beziehungen mehr in der echten Welt verfügt.

Selbstachtsamkeit ist das Ziel

Das Ziel ist, zu lernen, sich besser abzugrenzen und mehr auf sich zu achten. Dazu gehört auch, sich Schönes zu gönnen. „Viele Menschen sehen Pausen in anstrengenden Zeiten als Luxus. Absurd: Was ihnen guttut, lassen sie weg. Deshalb ist es wichtig zu schauen: Wo tanke ich auf, welche Ressourcen habe ich – Freunde oder Hobbys? Wie gelingt es, eine gute „life balance“ zu bekommen? Ich sage bewusst nicht „work­lifebalance“, denn das klingt, als würde Arbeit nicht zum Leben gehören!“ Krank machendem Stress entgegenzuwirken, bedeute vor allem mehr Selbstfürsorge: die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen und liebevoller zu sich selbst zu sein. Wer das schafft, kann langfristig wieder Freundschaft mit dem Körper schließen – und ein wirklich erfülltes Leben haben.