Bei seiner Amtseinführung als wiedergewählter Präsident hat Macron betont, seine zweite Amtszeit werde keine »Fortsetzung« der ersten sein, sondern er verstehe sich als »neuer Präsident mit einem neuen Mandat«. Den Bürgerinnen und Bürgern seines Landes versprach er, »die Reformen nicht aneinanderzureihen, als wolle man dem Volk Fertiglösungen vorsetzen«. Vielmehr werde er »eine neue Methode erfinden, die sich von den abgenutzten Ritualen und Choreographien entfernt«, und stellte ein besseres Zusammenspiel von »Regierung, Verwaltung, Parlament, Sozialpartnern, Vereinen und politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Akteuren aus dem ganzen Land« in Aussicht. Entschlossen werde er für Frankreich und Europa handeln, »einen neuen europäischen Frieden schaffen und neue Autonomie auf unserem Kontinent«.
Viele dieser Vorhaben wird der Präsident indes nicht umsetzen können – dafür verfolgen seine politischen Opponenten zu unterschiedliche Strategien. Bereits in den ersten Tagen der neuen politischen Zeitrechnung in Frankreich ist klar geworden, dass Jean-Luc Mélenchon seine Partei LFI auf eine Fundamentalopposition gegenüber Präsident Macron und seiner Regierung einstimmt. Allen Reforminitiativen, die schädlich für das Land seien, werde man eine Absage erteilen. Diesem Kurs schließen sich bislang auch weite Teile der Grünen, der Sozialisten und der Kommunisten an. Im Unterschied zu Mélenchon definiert Marine Le Pen für ihre Partei die Rolle einer konstruktiven Partnerin. Le Pen möchte den RN schnell ins politische Spiel integrieren und damit seine »Notabilisierung« erreichen. Mittelfristig strebt sie an, eigene Gesetzesvorhaben einzubringen und dafür Mehrheiten zu gewinnen. Einen ersten Erfolg konnte sie verbuchen, als der RN die notwendige Zustimmung von Macrons Parteienbündnis und von den Konservativen (Les Républicains) erhielt, um die zwei Posten als Vizepräsidenten der Nationalversammlung einzunehmen, die ihm zustehen. Die Konservativen lehnten ihrerseits das Angebot Präsident Marons ab, eine Koalition zu schmieden. Die 62 Mandate, die sie bei den Parlamentswahlen verteidigen konnten, hätten dem Präsidentenbündnis in der Nationalversammlung die absolute Mehrheit (die bei 289 Stimmen liegt) garantiert. Gleichwohl möchte sich die Partei nicht auf die Rolle einer Mehrheitsbeschafferin für Macron reduzieren lassen. Vor dem Hintergrund dieser ungewöhnlichen politischen Gemengelage hat Präsident Macron zwei Möglichkeiten, seine neue Amtszeit zu gestalten.
Die schwierigere Option für Emmanuel Macron besteht darin, für alle Gesetzesvorhaben und ‑änderungen Mehrheiten in der Nationalversammlung zu finden. Dass er diesen Versuch wagen will, machte seine Premierministerin Élisabeth Borne in ihrer Regierungserklärung vom 6. Juli 2022 deutlich. In der Assemblée Nationale mahnte sie die Abgeordneten zum Kompromiss: »Eine neue Seite unserer politischen und parlamentarischen Geschichte beginnt: die der Projektmehrheiten. Gemeinsam mit meiner Regierung werde ich unermüdlich daran arbeiten.« Um die Kompromissfindung zu begünstigen, macht die Regierung fast allen politischen Kräften Angebote: Der Linken stellt sie die Verstaatlichung des Energieunternehmens EDF in Aussicht und verspricht eine »inklusivere« Gesellschaft, was auch die Reform der staatlichen Beihilfen für Menschen mit Behinderung einschließt. Renten und zahlreiche Sozialleistungen, insbesondere das Kindergeld, die Aktivitätsprämie oder die Wohnbeihilfe, will die neue Regierung erhöhen und damit vergessen machen, dass Macron zu Beginn seiner ersten Amtszeit ebensolche Hilfen gekürzt hat, was seinen Ruf als »Präsident der Reichen« begründet hat. Den Grünen sichert die Regierung »Radikalität« im Kampf für das Klima zu und betont, die Klimarevolution werde nicht auf Verzicht beruhen, sondern aus Innovationen, neuen Branchen und zukunftsorientierten Arbeitsplätzen bestehen. Den Konservativen, auf deren Unterstützung Präsident Macron weiter in besonderem Maße zählt, macht seine Regierung gleich drei Angebote: Sie setzt den Kampf gegen Unsicherheit gleich mit dem Kampf für »Chancengleichheit« und nimmt so ein Thema auf, das bisher im Profil Emmanuel Macrons gefehlt hat. Darüber hinaus verspricht sie, zu größerer Haushaltsdisziplin zurückzukehren: »Unsere Ziele sind klar: 2026 müssen wir damit beginnen, die Schulden zu verringern. Im Jahr 2027 müssen wir das öffentliche Defizit auf unter 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts senken.« Schließlich hält sie an der Rentenreform fest, die auch die Konservativen für erforderlich halten. Ausdrücklich kein Kooperationsangebot erging an LFI und RN. Dass dieser Weg jedoch nicht über die gesamte zweite Amtszeit des Präsidenten hinweg funktionieren dürfte, haben bereits die Auseinandersetzungen um das erste Gesetzespaket gezeigt. Mit ihm versucht die Regierung, die Kaufkraft der Bevölkerung zu verbessern. Weil eine Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in Zeiten steigender Energiepreise und galoppierender Inflation allen Parteien am Herzen liegt, war es folgerichtig, dieses Gesetz an den Beginn der Amtszeit zu stellen. Um den Gesetzesentwurf durch den parlamentarischen Prozess zu bekommen, hat Macron dennoch einen sehr hohen Preis bezahlt: Der Entwurf sieht vor, Renten und diverse Sozialleistungen rückwirkend zum 1. Juli 2022 um 4 Prozent zu erhöhen, den Tankrabatt von 18 Cent je Liter auf 30 Cent anzuheben sowie Geringverdiener zu unterstützen, indem sie Lebensmittelzuschüsse erhalten und Mieterhöhungen begrenzt werden. Angestellte können von ihrem Arbeitgeber künftig jährlich eine abgabenfreie »Macron-Prämie« von bis zu 3000 Euro bekommen, der Energiekonzern EDF wird verstaatlicht. Trotzdem votierten LFI und die große Mehrheit der Grünen gegen den Entwurf, Kommunisten und Sozialisten enthielten sich, während die Konservativen und der RN mit den Macron nahestehenden Parteien für den Text stimmten. Den zur Finanzierung dieser Maßnahmen notwendigen Nachtragshaushalt 2022 in Höhe von 44 Milliarden Euro unterstützen (neben dem Präsidentenbündnis) allein die Konservativen. Der Nachtragshaushalt treibt die französische Staatsverschuldung, die bereits bei 115 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt, weiter in die Höhe. Dass Emmanuel Macron die Politik der Reformmehrheiten gleichwohl weiterführen will, verdeutlicht der Blick auf die politischen Vorhaben, die sich die Regierung für den Herbst 2022 vorgenommen hat: etwa ein Immigrationsgesetz, über das Abschiebungen von Straftätern erleichtert werden sollen und das einen Sprachtest zur Bedingung für Aufenthaltsgenehmigungen macht. Macrons Werben um die 62 Stimmen der Konservativen bei diesem und anderen Vorhaben stärkt jedoch ebenfalls Marine Le Pen, die bei ihrer Wählerschaft sowohl mit sozialpolitischen Themen punkten kann als auch mit Vorhaben, die der französischen Bevölkerung eine Vorzugsbehandlung versprechen. Ihre Strategie, konstruktiv an der Gesetzgebung mitzuwirken und ihre Partei weiter zu »normalisieren«, geht bislang auf. Seine weiteren Reformprojekte wird Macron indes nicht ohne Zustimmung von Grünen und Sozialisten durchführen können. Das gilt in besonderem Maße für sein Vorhaben, den ökologischen Umbau des Landes per Gesetz zu regeln, desgleichen die Förderung erneuerbarer Energien und die Reduzierung des Energieverbrauchs um 10 Prozent bis 2024. Noch haben Grüne und Sozialisten sich nicht entschieden, ob bzw. inwieweit sie mit Macron zusammenarbeiten werden. Lehnen sie dessen Pläne weiterhin ab oder enthalten sich der Stimme, dürfte Macron auch mit seinem wichtigsten Vorhaben scheitern: der Rentenreform. Hier wird er erneut zuvorderst auf die Konservativen zugehen. Deren Zustimmung könnte jedoch ins Wanken geraten, nicht zuletzt weil die übrigen Parteien die Bevölkerung mobilisieren werden, um die Rentenreform einmal mehr mittels Streik zu Fall zu bringen. Sollten die Konservativen gegen die Reform votieren, kann man davon ausgehen, dass der Präsident das Experiment, über Projektmehrheiten zu regieren, für gescheitert erklärt.
Macron verbliebe dann eine zweite Option: die Nationalversammlung aufzulösen und Neuwahlen zu veranlassen. Nach Artikel 12 der französischen Verfassung kann der Präsident der Republik »nach Beratung mit dem Premierminister und den Präsidenten der Kammern die Nationalversammlung für aufgelöst erklären. Die allgemeinen Wahlen finden frühestens zwanzig und spätestens vierzig Tage nach der Auflösung statt.« In der seit 1958 bestehenden V. Republik wurde bisher fünfmal davon Gebrauch gemacht. Charles de Gaulle (1962 und 1968) und François Mitterrand (1981 und 1988) lösten die Nationalversammlung aufgrund innenpolitischer Krisen oder fehlender Mehrheiten auf, beide erreichten jeweils bei den folgenden Wahlen die Mehrheit. Jacques Chirac hingegen griff 1997 ohne Not zu diesem Mittel; er verfügte über eine Mehrheit im Parlament. Da aber schwierige und unpopuläre Entscheidungen anstanden, zog er die Parlamentswahl um ein Jahr vor mit dem Ziel, seine parlamentarische Mehrheit langfristig zu sichern. Das Kalkül ging nicht auf – Chirac verlor seine Mehrheit und musste sich in eine »Cohabitationsregierung« mit den Sozialisten schicken. Emmanuel Macron könnte sich, analog zu François Mitterrand, durch die Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahlen mehr politischen Handlungsspielraum zurückerobern wollen. Bei diesem Unterfangen ginge er indes ein hohes Risiko ein, denn die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit seiner Politik ist weiterhin groß. Überdies ist das Land heute politisch dreigeteilt; das bipolare Parteiensystem, in dem de Gaulle, Mitterrand und Chirac regierten, existiert nicht länger. Und schließlich: Je später Macron die Nationalversammlung auflöst, desto weniger kann er auf ein Bündnis mit der Partei Horizons zählen, der Édouard Philippe vorsteht, von 2017 bis 2020 erster Premierminister unter Macron. Es gilt nämlich als sehr wahrscheinlich, dass sich Philippe 2027 in das Rennen um den Élysée-Palast begeben und daher gezwungen sein wird, eigene politische Akzente zu setzen. |