Was ist der schnellste Zug in deutschland

Die deutsche Rekordfahrt vom 1. Mai 1988 ist nur drei Jahrzehnte her. Aber es war eine andere Ära. Die Bahn hieß noch Bundesbahn und war eine Behörde. ICE stand damals für Intercity Experimental und nicht für Intercity Express. An Bord Computer aus der digitalen Steinzeit, auf den Sitzen fast nur Männer.

Ein Shinkansen im Seikan-Tunnel: Mit 53,8 Kilometern ist er einer der längsten Unterseetunnel der Welt. Er verbindet die japanischen Inseln Hokkaido und Honshu. (Quelle: kyodo/dpa-bilder)

Als die Tempoanzeige die 406 erreicht, johlen und klatschen sie. Minister loben das "eindrucksvolle Ergebnis deutscher Spitzentechnologie". Mitreisende Reporter schwärmen von einem historischen Augenblick im "stromlinienförmigen Räderjet". Doch der Rausch währt nur kurz: Zwei Jahre später schafft ein französischer TGV 515 km/h. Der Rekord des ICE ist damit Geschichte. Frankreichs Staatsbahn schmückt sich noch heute mit ihrem Bestwert. Schnelle Züge sind Statussymbole. Mit Rekorden machen Staaten und ihre Bahnhersteller international auf sich aufmerksam.

Übertroffen wird der TGV vom japanischen Shinkansen, der auf Teststrecken 600 km/h erreicht – mit Magnetschwebetechnik ähnlich dem verblichenen deutschen Transrapid. Chinas Eisenbahnen haben es immerhin schon nah an Tempo 500 geschafft. Längst ist das Riesenland mit staatlicher Förderung zu einer Macht auf dem Bahnsektor geworden. Der Bahntechnikkonzern CRRC macht doppelt so viel Umsatz wie die Bahnsparten von Siemens und Alstom zusammen. Beide fusionieren, um gegenhalten zu können.

Französischer TGV: 2007 stellte ein dafür präparierter Zug seinen eigenen Rekord aus dem Jahr 1990 ein. Er erreichte ein Tempo von 574,79 km/h. (Quelle: Bernd Weißbrod/dpa-bilder)

Chinas neuer, selbst entwickelter Schnellzug Fuxing ("Erneuerung") fährt mit bis zu 350 km/h zwischen Shanghai und Peking. Für die 1.300 Kilometer braucht er viereinhalb Stunden. In drei Jahren werden 400 km/h im Regelbetrieb angepeilt.

Und Deutschland? "Wo es Hochgeschwindigkeitsstrecken gibt, nutzen wir auch die Möglichkeiten", sagt die Bahn. Bis zu 300 km/h schnell fahren die Züge zwischen Köln und Frankfurt sowie Berlin und München, auch in Richtung Paris. In Frankreich beschleunigen sie sogar auf 320 km/h. Zwischen Würzburg und Hannover erreichen die Züge bis zu 280 km/h. Sonst sind selten Geschwindigkeiten über 250 km/h möglich. Denn anders als in Frankreich und China halten die Schnellzüge hier alle halbe Stunde. Und sie müssen ihr Netz oft auch mit langsameren Zügen teilen.

Ein ICE der Deutschen Bahn

Foto: Julian Stratenschulte/ DPA

9.10 Uhr verlässt der TGV den Stuttgarter Hauptbahnhof. Die Fahrt nach Paris wird genau drei Stunden und 23 Minuten dauern. Und sie wird aus zwei Teilen bestehen. Einer eher gemütlichen Gondelei über Karlsruhe nach Straßburg. Und einer rasanten Sause ab Straßburg bis zum Gare de l'Est von Paris.

Der Schnellzug aus Frankreich kann in Deutschland sein Sprintvermögen nur hinter Stuttgart und nahe Baden-Baden kurz andeuten. Gut 90 Minuten dauert die 175 Kilometer lange Fahrt bis Straßburg - das entspricht durchschnittlich 120 km/h.

Die restlichen 450 Kilometer bis Paris spult der TGV dann in nicht einmal zwei Stunden herunter. Bis zu 320 km/h schnell darf er dabei fahren und im Durchschnitt doppelt so schnell wie von Stuttgart nach Straßburg.

Dass der TGV hierzulande trödelt und in Frankreich Vollgas gibt, liegt nicht etwa an seiner französischen Technik. Ursache sind vielmehr die Trassen in Deutschland, die nur auf ein paar Dutzend Kilometern für Geschwindigkeiten über 160 km/h zugelassen sind.

Wie dem TGV in Baden-Württemberg geht es auch dem ICE - und zwar vielerorts in Deutschland. Viel zu oft müssen die Züge ihre Fahrt drosseln, weil die Gleise hohe Geschwindigkeiten nicht erlauben, eine Durchfahrt durch einen Ort ansteht, ein paar Kilometer voraus ein rotes Signal wartet oder weil Gleisabschnitte noch durch andere Züge belegt sind.

Frankreich und Deutschland haben Milliarden in ihre Hochgeschwindigkeitsnetze investiert. Aber richtig schnell fahren die Züge nur auf französischen Gleisen.

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Beispiel: München - Hamburg versus Paris - Marseille

Wie extrem die Unterschiede sind, zeigt der Vergleich zweier Langstrecken. Von Paris bis Marseille ist es etwa genauso weit wie von München nach Hamburg - 765 bis 780 Kilometer. Der TGV fährt die Strecke nonstop in drei Stunden elf Minuten - kann also durchaus mit dem Flugzeug mithalten. Eine der schnellsten ICE-Verbindungen hingegen braucht von München bis Hamburg fünf Stunden und 35 Minuten, mancher ICE braucht auch eine Stunde länger.

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Folgende Animation zeigt den Vergleich von TGV und ICE auf den beiden nahezu gleich langen Strecken:

Die wichtigste Ursache für die deutlich längere ICE-Fahrt ist in den Achtzigern zu suchen: Die damalige Bundesbahn entschied, dass die Hochgeschwindigkeitszüge anders als in Frankreich oder Japan kein eigenes Streckennetz bekommen sollten. Sie teilen sich bis heute die Gleise mit langsameren ICs, Regional- und Güterzügen. So kommt es zwangsläufig immer wieder zu Verzögerungen auf stärker befahrenen Strecken.

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Der Mischbetrieb verteuert auch den Streckenbau: Während der relativ leichte TGV kleine Hügel einfach hochfährt  , musste die Bahn in Deutschland mehr Tunnel bauen, weil schwere Güterzüge mit Anstiegen über 1,25 Prozent nicht klarkommen .

Die Schnellzugnetze spiegeln auch grundlegende Unterschiede zwischen den Ländern wider: Im zentralistischen Frankreich führen die sogenannten Lignes à Grande Vitesse von Paris in den Süden, zum Atlantik und nach London und Brüssel - größtenteils durch gering besiedelte Gebiete ohne hohe Berge, was eine gerade Linienführung ohne zeitraubende Zwischenstopps erleichterte.

Im dezentralen, dicht besiedelten Deutschland erschweren Täler und Mittelgebirge den Streckenbau. Das Netz erinnert an einen Flickenteppich: Schnellfahrstrecken mit Geschwindigkeiten ab 250 km/h werden immer wieder unterbrochen von langsameren Passagen - siehe Karte unten.

Halte in kleineren Städten wie Göttingen, Fulda, Erfurt, Montabaur oder Wolfsburg verlängern die Fahrzeit zudem schnell mal um vier, fünf Minuten. Und selbst wenn der ICE nicht stoppt, muss er bei Ortsdurchfahrten mitunter seine Geschwindigkeit drosseln.

Beim TGV hingegen ist die Streckenführung auf maximale Geschwindigkeit optimiert. Auf dem Weg von Paris nach Marseille könnte der Zug durch Lyon fahren und dort halten, was bei einigen Verbindungen auch geschieht. Für eine besonders schnelle Nonstop-Verbindung hat die SNCF jedoch eine weiträumige Umfahrung von Lyon gebaut. Der TGV muss also nicht bremsen.

Bei der Bahn hält man den Vergleich der TGV- und ICE-Netze für unfair: "Im Gegensatz zu Frankreich binden wir in Deutschland auch die Regionen gut an und nicht nur die großen Städte", sagte ein Sprecher. Dies sei ein wichtiger Unterschied zum TGV-Netz.

"Wir können nicht zufrieden sein mit dem Hochgeschwindigkeitsnetz in Deutschland", meint hingegen Dirk Flege, Geschäftsführer der Lobbyorganisation "Allianz Pro Schiene". Da sehe man im Vergleich zu anderen Ländern wie Frankreich, Spanien und auch Italien nicht gut aus.

Zeitpuffer verlängern die Fahrt

Doch das deutsche Streckennetz ist besser, als es erscheint. Zumindest theoretisch. Der SPIEGEL hat die auf den ICE-Gleisen möglichen Fahrzeiten berechnet und dabei auch Zeitverluste für Bremsen und Beschleunigen berücksichtigt. Basis dafür ist der frei zugängliche Datensatz mit allen Eisenbahnstrecken Deutschlands . Für jedes Teilstück ist darin unter anderem die dort erlaubte Höchstgeschwindigkeit vermerkt.

Stünden alle Signale auf dem Weg von München nach Hamburg auf Grün und könnte der ICE immer so schnell fahren, wie es der jeweilige Gleisabschnitt erlaubt, würde eine Nonstop-Fahrt nur vier Stunden dauern. Inklusive aller fahrplanmäßigen Halte wären es vier Stunden und 29 Minuten - siehe folgendes Diagramm.

Warum aber braucht der ICE real mindestens eine Stunde länger? Die Analyse der 780 Kilometer langen Strecke zeigt, dass die Bahn im Fahrplan häufig Zeitpuffer miteingebaut hat - unter anderem, damit die Züge bei kleineren Verzögerungen nicht sofort Verspätung haben.

Wie groß die Reserven auf der Strecke München - Hamburg sind, können Fahrgäste mit etwas Glück selbst erleben. Ein ICE kann in München mit 28 Minuten Verspätung losfahren - und bis Hamburg die 28 Minuten Verspätung komplett aufholen. Die fahrplanmäßige Fahrzeit sollte bei fünf Stunden 37 Minuten liegen, tatsächlich brauchte der ICE an einem Sonntag im März nur fünf Stunden und 9 Minuten. Es ginge also durchaus schneller.

Dass die Bahn das Potenzial ihres Hochgeschwindigkeitsnetzes zu wenig nutzt, zeigt sich auch auf anderen ICE-Linien. Von Hamburg nach Berlin braucht der schnellste Zug eine Stunde und 43 Minuten - theoretisch könnte er 23 Minuten schneller sein. Auch zwischen Frankfurt und Köln sowie Frankfurt und München gibt es größere Reserven - siehe folgendes Diagramm.

Eine Bahnsprecherin erklärte auf Anfrage, Streckenhöchstgeschwindigkeiten seien nicht gleichzusetzen mit durchgehend fahrbaren Geschwindigkeiten. Auch wenn theoretisch eine kürzere Fahrzeit möglich wäre, sei eventuell ein Knoten gar nicht in der Lage, den Zug früher "aufzunehmen". Die Fahrpläne seien "hochkomplex". Hinzu kämen notwendige Puffer in den Hauptverkehrszeiten, weil das Ein- und Aussteigen der Fahrgäste dann länger dauere als die laut Fahrplan vorgesehene Haltezeit.

Die SNCF kommt bei ihren TGV-Fahrpläne übrigens auch nicht ohne Puffer aus - allerdings sind diese deutlich kleiner als bei der Deutschen Bahn. Bei Paris-Marseille beispielsweise sind es gerade mal 19 Minuten. Die Reserven betragen in Frankreich etwa 10 bis 13 Prozent der Gesamtfahrzeit, in Deutschland sind es 17 bis 27 Prozent.

Flotter und reibungsloser könnten die ICEs womöglich fahren, wenn die Bahn flächendeckend das Zugsteuerungssystem ETCS einführt. Es teilt Zügen per Digitalfunk mit, wie schnell sie fahren dürfen und wo sie anhalten müssen - die bislang üblichen Signale neben den Gleisen wären überflüssig. Dies soll vor allem auf dicht befahrenen Trassen die Kapazität erhöhen. Fahrzeiten wie in Frankreich scheinen damit aber trotzdem kaum möglich, solange es immer noch viel zu viele Streckenabschnitte gibt mit einem Geschwindigkeitslimit von 160 oder 200 km/h.

Auch das will die Bahn zumindest langfristig ändern. Auf Strecken zwischen Frankfurt und Mannheim, Würzburg und Nürnberg sowie Hannover und Berlin sollen die ICEs künftig bis zu 300 km/h fahren können. Das klingt gut. Wenn dabei aber nur Teilstücke der Strecken für hohe Geschwindigkeiten ausgebaut werden, ist der Effekt vergleichsweise gering.

Das zeigt die Ende 2017 eröffnete Strecke von Berlin über Erfurt nach München. Auf der Neubautrasse durch den Thüringer Wald fahren die schnellsten ICEs bis zu 300 km/h - trotzdem liegt die Durchschnittsgeschwindigkeit auf der gesamten Strecke bei gerade mal 150 km/h. So dauert die Fahrt bis München vier Stunden. Ein Fortschritt im Vergleich zur früheren Fahrzeit von sechs Stunden - aber immer noch zu langsam, um dem Flugzeug Konkurrenz zu machen.

Hinweis: Auf der Karte mit den deutschen ICE-Strecken waren einige Abschnitte falsch oder zu kurz eingezeichnet - wir haben dies korrigiert.

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